Tacitus (Germania)
Tacitus - De origine et situ Germanorum
Geographisches Gesamtbild Germaniens: Lage, Grenzen, Hauptströme
Germanien wird als Ganzes von den Galliern, Rätern und Pannoniern durch die Flüsse Rhein und Donau, von den Sarmaten und Dakern durch gegenseitige Furcht oder Gebirge geschieden. Das Übrige umfließt das Weltmeer, das tiefe Landeinschnitte und Inseln von unermesslicher Ausdehnung umfasst, wobei man erst kürzlich einige Völkerschaften und Könige kennen lernte, die der Krieg erschlossen hat. Der Rhein entspringt auf dem unzugänglichen und schroffen Gipfel der rätischen Alpen, wendet sich dann in einer ziemlichen Krümmung gegen Westen und vermischt sich zuletzt mit dem nördlichen Weltmeer. Die Donau entströmt einem sanft und gemach ansteigenden Bergrücken des Abnobagebirges und berührt mehrere Völkerschaften, bis sie in das pontische Meer in sechs Armen hinausbricht; die siebte Mündung wird durch Sümpfe verschlungen.
Die Einwohner und ihre Urgeschichte
Die Germanen selbst möchte ich für Ureinwohner halten und durchaus nicht durch die Einwanderung und den Aufenthalt anderer Völkerschaften vermischt, weil einerseits in alter Zeit nicht zu Land, sondern auf Flotten diejenigen ankamen, die ihre Wohnsitze zu verändern suchten, und dann weil das unermessliche und sozusagen widerwärtige Weltmeer jenseits nur selten von unserem Erdkreis aus zu Schiff besucht wird. Wer hätte ferner, ganz abgesehen von der Gefährlichkeit eines unwirtlichen und unbekannten Meeres, Asien, Afrika oder Italien verlassen sollen - um nach Germanien zu ziehen, in das wüste Land mit rauem Himmel, abschreckend für den Anbau und den Anblick, - außer wenn man es zum Vaterland hat? Sie preisen in alten Liedern, der einzigen bei ihnen vorkommenden Art der Überlieferung und von Geschichtsquellen, den erdentsprossenen Gott Tuisto und seinen Sohn Mannus als Stammväter und Gründer ihres Volkes. Dem Mannus schreiben sie drei Söhne zu, nach denen die zunächst am Weltmeer wohnenden Ingävonen, die in der Mitte Herminonen, die übrigen Istävonen heißen sollen. Manche stellen, wie ja das hohe Altertum dazu die Befugnis gibt, mehrere Söhne des Gottes und mehrere Völkerbenennungen auf: Marser, Gambrivier, Sueben, Vandilier und erklären diese für die echten alten Namen. Übrigens sei die Bezeichnung Germanien neu und erst seit kurzem übernommen, weil die ersten, die über den Rhein gegangen seien und die Gallier verdrängt hätten, zwar jetzt Tungrer, damals aber Germanen geheißen hätten. Dieser Name eines Stammes - nicht des ganzen Volkes - habe allmählich solche Bedeutung gewonnen, dass alle mit einem Namen, den ihnen zuerst der Besieger wegen des furchterregenden Eindrucks, bald auch sie selbst sich beilegten, Germanen genannt wurden.
Altertümliche Sagen
Auch Herkules, erzählen sie, sei bei ihnen gewesen, und ihn besingen sie, wenn sie in die Schlacht ziehen wollen, zuerst von allen tapferen Männern. Auch haben sie noch andere Lieder, durch deren Vortrag, den sie Bardit nennen, sie den Mut entflammen und aus deren Ton allein sie schon den Ausgang des bevorstehenden Kampfes weissagen. Denn je nachdem der Ruf der Schlachtlinie klingt, fühlen sie sich schrecklich oder zaghaft, und sie sehen darin weniger einen Zusammenklang der Stimme als der Tapferkeit. Vornehmlich erstrebt man Rauheit des Tones und ein gedämpftes Murmeln; dazu halten sie die Schilde vor den Mund, damit die Stimme durch den Widerhall desto voller und tiefer anschwillt. Übrigens glauben einige, auch Odysseus sei auf seiner langen abenteuerlichen Irrfahrt in dieses Weltmeer geraten und habe die Länder Germaniens besucht, und Askiburg, das am Ufer des Rheins liegt und noch heutigen Tags bewohnt wird, sei von ihm gegründet und benannt worden. Ja man habe sogar einen Altar, den Odysseus geweiht habe, mit dem Namen seines Vaters Laertes darauf, an der gleichen Stelle vor Zeiten gefunden, und Denkmäler und eine Art von Grabmälern mit griechischen Inschriften seien im Grenzgebiet von Germanien und Rätien noch jetzt vorhanden. Diese Dinge mit Gründen zu bestätigen oder zu widerlegen, ist nicht meine Absicht: Jeder möge ihnen nach seiner Denkweise Glauben beimessen oder verweigern.
Das körperliche Aussehen der Germanen
Ich selbst trete deren Meinung bei, die glauben, dass die Völkerschaften Germaniens, ohne je durch eheliche Verbindungen mit anderen Stämmen fremdartige Bestandteile in sich aufgenommen zu haben, ein eigenständiges, reines, nur sich selbst ähnliches Volk geworden sind. Daher ist auch die Körperbeschaffenheit trotz der großen Menschenzahl bei allen die gleiche: blaue Augen mit wildem Ausdruck, rötliches Haar, hochgewachsene und nur für den Angriff starke Leiber; für Mühsal und Arbeiten haben sie nicht in dem selben Maß Ausdauer, und am wenigsten ertragen sie Durst und Hitze. An Kälte und Hunger haben sie sich infolge Klima oder Boden gewöhnt.
Boden und Erzeugnisse Germaniens
Obwohl sich das Land nach seiner Erscheinung beträchtlich unterscheidet, ist es doch im allgemeinen entweder mit unwirtlichen Wäldern oder mit wüsten Sümpfen bedeckt; feuchter in der Richtung gegen Gallien, windiger in der Richtung gegen Noricum und Pannonien hin, hinreichend ertragreich, für Fruchtbäume ungeeignet, an Vieh reich, aber meistens kleinwüchsig; selbst den Rindern mangelt ihre eigentümliche Auszeichnung und der Schmuck ihrer Stirn; die Zahl ist es, die ihre Freude ausmacht, und dies ist ihr einziger und liebster Reichtum. Silber und Gold haben ihnen die Götter versagt, - ob aus Gnade oder Zorn, ist mir zweifelhaft. Doch möchte ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, dass in Germanien keine Ader Silber oder Gold hervorbringt; denn wer hätte dem nachgespürt? Auf seinen Besitz und Gebrauch legen sie keinen besonderen Wert. Man kann bei ihnen silberne Gefäße sehen, die ihre Gesandten und Fürsten zum Geschenk bekommen haben und nicht höher geachtet werden als die irdenen. Doch haben die uns Nächsten wegen des Handelsverkehrs Gold und Silber schätzen gelernt, erkennen einige Sorten unseres Geldes an und nehmen sie mit Vorliebe; die weiter innen haben einfacher und altertümlicher noch den Tauschhandel. Beim Geld loben sie das alte und lang bekannte, Serraten und Bigaten. Auch sind sie auf Silber mehr aus als auf Gold, nicht aus innerer Neigung, sondern weil die größere Zahl der Silbermünzen leichter zu gebrauchen ist für Leute, die allerlei und wenig Wertvolles kaufen.
Bewaffnung und Kriegswesen
Selbst Eisen ist nicht im Überfluss vorhanden, wie sich aus der Art ihrer Angriffswaffen schließen lässt. Nur einzelne haben Schwerter oder größere Lanzen. Spieße oder - nach ihrer eigenen Benennung - Framen führen sie mit schmalem und kurzem Eisen, das aber so scharf und zum Gebrauch handlich ist, dass sie mit der selben Waffe, je nach Umständen, in der Nähe oder aus der Ferne kämpfen. Und der Reiter wenigstens begnügt sich mit Schild und Frame; die Leute zu Fuß verschleudern auch Wurfgeschosse, jeder mehrere, und sie werfen sie außerordentlich weit, da sie nackt sind oder mit dem Mantel leicht bekleidet. Kein Prunken in der Ausstattung: nur die Schilde bemalen sie mit den ausgesuchtesten Farben. Wenige haben Panzer, kaum der eine oder andere Sturmhaube oder Helm. Die Pferde zeichnen sich nicht durch schöne Gestalt, nicht durch Geschwindigkeit aus; aber sie werden auch nicht nach unserer Sitte zu allen möglichen Wendungen abgerichtet: gerade aus oder mit einer einzigen Schwenkung nach rechts treiben sie sie in so geschlossenem Bogen, dass keiner hinter den anderen ist. Auf das Ganze gesehen ist ihr Fußvolk der stärkere Teil; deswegen kämpfen sie auch gemischt, indem zu dem Gefecht der Reiter die Geschwindigkeit der Leute zu Fuß vollständig stimmt; diese lesen sie aus der gesamten Mannschaft aus stellen sie vor der eigentlichen Schlachtreihe auf; auch ihre Zahl ist festgelegt: je hundert sind es aus einem Gau und ebenso heißen sie auch unter ihren Leuten, und was anfänglich eine Zahlbezeichnung war, ist jetzt Titel und Ehre. Die Schlachtreihe wird in keilförmigen Haufen aufgestellt. Von der Stelle zu weichen, vorausgesetzt, dass man wieder vordringt, gilt bei ihnen eher als Klugheit als für Feigheit. Leichname ihrer Leute bringen sie auch in ungewissen Schlachten zurück. Seinen Schild zurückzulassen ist die größte Schande: weder gottesdienstlichen Handlungen beizuwohnen noch in eine Versammlung zu kommen ist einem solchen Ehrlosen gestattet; viele, die einen Krieg überlebten, haben ihrem entehrten leben durch den Strick ein Ende gemacht.
Fürsten, Heerführer, Priester; Einfluss der Frauen
Die Könige nehmen sie nach ihrem Adel, die Heerführer nach der Tapferkeit.Auch die Könige haben keine schrankenlose und willkürliche Gewalt, und die Heerführer gewinnen ihre ausgezeichnete Stellung mehr durch ihr Vorbild als durch Befehlsgewalt, durch die Bewunderung, die sie einflößen, wenn sie entschlossen sind, wenn sie sich hervortun, wenn sie Vorkämpfer sind. Übrigens hat weder zum Strafen, noch zum Binden, noch auch zum Züchtigen irgend jemand die Befugnis außer den Priestern, und auch diese nicht wie zur Strafe oder auf des Anführers Geheiß, sondern gleichsam auf Befehl des Gottes, von dem sie glauben, dass er den Kämpfenden zur Seite steht, wie sie denn gewisse Bilder und Abzeichen, die sie aus den Hainen holen, mit sich in die Schlacht nehmen;. und ein ganz besonderer Antrieb zur Tapferkeit ist der Umstand, dass nicht Zufall oder beliebiges Zusammenscharen das Geschwader oder den Keil bildet , sondern Familienbande und Verwandtschaften; und in nächster Nähe sind ihre Liebsten, so dass man von dort das Geheul der Weiber, das Wimmern der Kinder vernehmen kann. Sie sind für jeden die heiligsten Zeugen, sie die höchsten Lobredner. Zu ihren Müttern, zu ihren Frauen tragen sie ihre Wunden, und jene scheuen sich nicht, die Schläge zu zählen und zu untersuchen, und tragen ihnen selbst Speisen und Zuspruch ins Gefecht.
Achtung vor den Frauen
Man erzählt Beispiele, dass Schlachtreihen, die schon wankten und halb geworfen waren, von den Frauen, dadurch wieder hergestellt wurden, dass sie beharrlich flehten, sich mit ihrer Brust entgegenwarfen und auf die ihnen nunmehr drohende Gefangenschaft hinwiesen, die sie für ihre Frauen mit noch viel größerer Unruhe fürchteten, so dass ein besonders wirksames Mittel, eine Gemeinde zu verpflichten, ist, wenn man ihr unter den Geiseln auch edle Jungfrauen abverlangt. Ja sie legen ihnen sogar eine gewisse Heiligkeit und einen Blick in die Zukunft bei und weisen weder ihre Ratschläge zurück noch missachten sie ihre Aussprüche. Wir haben unter dem verewigten Vespasian erlebt, dass die Veleda lange Zeit bei sehr vielen als höheres Wesen galt. Aber auch schon vor Alters verehrten sie die Aurinia (Albruna) und mehrere andere Frauen als heilig, nicht aus Schmeichelei und ohne sie damit zu Göttinnen machen zu wollen.
Götterverehrung
Von den Göttern verehren sie am meisten den Merkur, dem sie an bestimmten Tagen auch Menschenopfer darzubringen für Recht halten. Herkules und Mars versöhnen sie durch zulässige Tieropfer. Ein Teil der Sueben opfert auch der Isis. Worin Anlass und Ursprung des fremden Gottesdienstes liegen, habe ich nicht mit Sicherheit erfahren können nur dass uns das Bild selbst, das in der Art eines Schnellseglers gestaltet ist, über eine Einführung der Verehrung von außen belehrt. Übrigens finden sie es der Größe der Himmlischen nicht angemessen, die Götter in Tempelwände zu bannen oder sie irgendwie menschlichen Zügen ähnlich darzustellen. Haine und Waldtriften betrachten sie als heilig und bezeichnen mit dem Namen Gottheit jenes Geheimnisvolle Etwas, das sie einzig mit dem Auge der Andacht schauen.
Losen und Wahrzeichen
Auf Wahrzeichen und Losen achten sie so sehr als nur irgend ein Volk. Beim Losen halten sie es einfach. Von einem Fruchtbaum hauen sie einen Zweig ab, zerschneiden ihn in Reiser, unterscheiden diese durch gewisse Zeichen voneinander und streuen sie dann über ein weißes Tuch hin ohne Plan und nach bloßem Zufall. Sodann spricht, wenn sich die Befragung auf öffentliche Angelegenheiten bezieht, der Priester der Gemeinde, wenn auf persönliche, der Hausvater selbst ein Gebet zu den Göttern, richtet seinen Blick zum Himmel empor, hebt dreimal je eines auf und gibt dann entsprechend dem vorher darauf eingedrückten Zeichen die Deutung. Ist ihre Antwort abschlägig, findet für diesen Tag keine Befragung über den gleichen Gegenstand mehr statt; ist sie zustimmend, wird noch überdies die Bestätigung der Vorzeichen erfordert. Auch ist es jedenfalls hier bekannt, das Geschrei und den Flug der Vögel zu befragen; eigentümlich aber ist es diesem Volk, es auch mit Vorahnungen und Weissagungen der Pferde zu versuchen. Sie werden auf öffentliche Kosten in den Waldtriften und Hainen gehalten, sind glänzend weiß und von keiner irdischen Arbeit berührt. Diese werden vor den heiligen Wagen gespannt, und der Priester und der König - oder das Haupt der Gemeinde - begleiten ihn und geben auch ihr Wiehern und Schnauben Acht. Und tatsächlich wird keinem Wahrzeichen größere Glaubwürdigkeit beigemessen, nicht nur bei dem einfachen Volk, sondern auch bei den Vornehmen, bei den Priestern; denn sich betrachten sie als Diener der Götter, jene als deren Vertraute. Es gibt auch noch eine andere Art, die Vorzeichen die beobachten, auf die sie den Ausgang wichtiger Kriege im voraus erkunden: Von dem Volk, mit dem Krieg ist, lassen sie einen Gefangenen, dessen sie, gleich wie, habhaft geworden sind, mit einem aus ihren Leuten ausgewählten Mann, beide in ihrer heimischen Bewaffnung, sich messen: der Sieg des einen oder des anderen wird als Vorentscheidung angenommen.
Beratungen und Volksversammlungen
Über weniger wichtige Angelegenheiten halten die Häuptlinge Rat, über wichtigere alle, doch in der Weise, dass auch diejenigen Gegenstände, worüber das Volk die Entscheidung hat, von den Häuptlingen vorbehandelt werden. Ihr Zusammentritt erfolgt, sofern nicht etwas Zufälliges und Unerwartetes vorgefallen ist, an bestimmten Tagen, zur Zeit des Neumonds oder des Vollmonds; denn für Geschäfte ist dies nach ihrer Meinung der verheißungsvollste Anfangspunkt. Auch zählen sie nicht nach Tagen, wie wir, sondern nach Nächten; so erfolgen die Verabredungen, geschehen die Vorladungen: die Nasch erscheint als Führerin des Tages. Eine üble Folge ihrer Unabhängigkeit ist, dass sie nicht gleichzeitig zum geforderten Zeitpunkt zusammenkommen, sondern der zweite und wohl auch dritte Tag durch ihre verspätetes Eintreffen verloren geht. Sobald es dem versammelten Haufen gefällig ist, lassen sie sich bewaffnet nieder. Die Priester, die dann das Recht zur Bestrafung haben, gebieten Stille. Sofort hört man den König oder den Häuptling an, je nach dem Einfluss, den jedem seine Jahre verliehen haben oder sein Adel oder seine Auszeichnung im Krieg oder seine Beredsamkeit, wobei jene eigentlich nur einen gewichtigen Rat geben können, aber keine Befehlsgewalt haben. Missfällt der Vorschlag, weisen sie ihn durch lautes Murren zurück; gefällt er ihnen aber, schlagen sie die Framen zusammen. Die ehrenvollste Art der Zustimmung ist es, mit den Waffen den Beifall zu äußern.
Befugnisse der Versammlungen: Peinliches Recht, Todesstrafen, Bußen
In der Volksversammlung kann man auch als Kläger auftreten und einen peinlichen Prozess anhängig machen. Die Strafen sind je nach Vergehen verschieden. Verräter und Überläufer hängt man an Bäumen auf; Feiglinge, Kriegsscheue und körperlich Unzüchtige versenkt man in Schlamm und Sumpf und wirft noch Flechtwerk obendrein. Diese Verschiedenheit der Todesart geht von der Rücksicht aus, dass Verbrechen offen behandelt werden sollten, wenn man sie bestraft, Schandbares dem Anblick entzogen. Aber auch leichtere Vergehen haben ihre entsprechende Strafe: mit einer Anzahl Pferde und kleinen Viehs büßt, wer überführt ist. Ein Teil der Buße fällt dem König oder der Gemeinde, ein Teil demjenigen zu, der sein Recht verfolgt, oder dessen Verwandten. Auch werden in diesen Versammlungen Häuptlinge gewählt, die in den Gauen und Dörfern umher Recht sprechen. Jedem von ihnen stehen hundert aus dem Volk zur Seite, um ihm Rat und zugleich Ansehen zu verleihen.
Das Tragen von Waffen. Die Fürsten und ihr Geleit
Keine Handlung, weder in öffentlichen noch in privaten Angelegenheiten, nehmen sie anders vor als bewaffnet. Doch keinem erlaubt es die Sitte, die Waffen eher anzulegen, als die Gemeinde ihn taugich erklärt. Dann wird in der Versammlung selbst der junge Mann entweder von einem Häuptling oder von seinem Vater oder von Verwandten mit mit Schild und Frame geschmückt. Das ist bei ihnen die Mannestoga, das die erste Ehre des jugendlichen Alters. Bis zu diesem Augenblick werden sie als Glieder des Hauses gesehen, von da an des Gemeinwesens. Besonders vornehmer Adel oder große Verdienste der Väter verleihen schon jungen Männern fürstlichen Rang; sie werden anderen, Kräftigeren und schon längst Erprobten, zugesellt, und es ist keine Schande, im Gefolge zu erscheinen. Ja die Gefolgschaft selbst hat sogar Rangstufen nach dessen Urteil, dem sie sich angeschlossen haben; und es findet ein lebhafter Wetteifer statt, einesteils unter den Gefolgsleuten, wer den ersten Rang bei seinem Fürsten habe, andererseits unter den Fürsten, wer das zahlreichste und tatkräftigste Gefolge. Das heißt Würde, das heißt Kraft, immer von einem großen Kreis erlesener junger Männer umgeben zu sein, im Frieden eine Zierde, im Krieg ein Bollwerk. Und nicht bloß bei dem eigenen Volk, sondern auch bei den angrenzenden Völkerschaften macht das einen Namen, macht das Ruhm, wenn einer durch die Zahl und Tapferkeit seines Gefolges hervorragt; denn man sucht sie mit Gesandtschaften auf, beehrt sie durch Geschenke und oft schlagen sie allein schon durch ihren Ruf einen Krieg nieder.
Kriegerisches Wesen. Dienst und Unterhalt des Geleits
Steht man in der Schlacht, ist es eine Schande für den Fürsten, sich an Tapferkeit übertreffen zu lassen. , eine Schande für das Gefolge, es an Tapferkeit dem Fürsten nicht gleich zu tun; vollends aber bringt es Ehrlosigkeit und Vorwürfe für das ganze Leben, seinen Fürsten überlebend aus der Schlacht zurück zu kommen. Ihn zu verteidigen, zu schützern, auch die eigenen tapferen Leistungen ihm zum Ruhm anzurechnen, ist die höchste Eidespflicht. Die Fürsten kämpfen für den Sieg, das Gefolge für den Fürsten. Wenn das Gemeinwesen, in dem sie geboren sind, in langem Frieden und Untätigkeit erlahmt ist, suchen sehr viele adlige Jünglinge von sich aus die Stämme auf, die im Augenblick einen Krieg führen, weil einerseits die Ruhe dem Volk unwillkommen ist und sie dann inmitten von Gefahren leichter zu Ruhm gelangen, sich ein großes Gefolge auch nur durch Gewalt und Krieg erhalten lässt. Sie erwarten nämlich von der Freigebigkeit ihres Fürsten ihr Streitross, ihre blutgetränkte, siegegewohnte Frame; denn Gastmähler und zwar schlichter, abe reichlicher Unterhalt zählen als Sold. Die Mittel zum Schenken gewähren Krieg und Raub. Das Land zu pflügen oder geduldig auf den Ertrag des Jahres zu warten, wird man sie nicht so leicht überreden, als die Feinde herauszufordern und sich Wunden zu holen. Als Faulheit, vielmehr Schlaffheit kommt es ihnen vor, mit Schweiß zu erwerben, was man mit Blut gewinnen kann.
Lebensweise im Frieden
Sooft sie nicht in den Krieg ziehen, bringen sie weniger Zeit mit Jagen zu, als mit Müßiggang: sie geben sich dem Schlaf hin und dem Essen. Gerade die Tapfersten und Kriegstüchtigsten sind völlig unbeschäftigt, indem sie die Sorge für Haus, Herd und Feld den Frauen übertragen haben, so wie den Greisen und allen Schwachen aus dem Gesinde. Sie selbst faulenzen nach dem seltsamen Widerspruch in ihrem Wesen, dass die gleichen Menschen in solcher Weise die Untätigkeit lieben und die Ruhe hassen. Es ist Brauch in den Gemeinden, dass man von selbst und jeder ohne Ausnahme den Fürsten Gaben an Vieh oder Feldfrüchten darbringt, was als Ehrengeschenk angenommen wird und zugleich den dringendsten Bedürfnissen abhilft. Ganz besondere Freude machen ihnen die Geschenke der angrenzenden Völkerschaften, die nicht bloß von einzelnen Personen, sondern auch von Staats wegen übersandt werden, erlesene Rosse, ausgezeichnete Rüstungen, Pferdeschmuck und Halsketten. Jetzt haben sie auch Geld zu nehmen von uns gelernt.
Haus- und Wohnungsbau
Dass die Völker Germaniens nicht in Städten wohnen, ist bekannt genug, ja dass sie nicht einmal aneinander gebaute Wohnungen dulden. Sie siedeln sich abgesondert und nach verschiedenen Richtungen an, wie eine Quelle, eine Flur, eine Waldtrift ihnen gefällt. Ein Dorf legen sie nicht nach unserer Art aus miteinander verbundenen und zusammenhängen Gebäuden an: Jeder umgibt sein Haus mit einem Freiraum, sei es als Schutz gegen Feuergefahr, sei es aus Unkenntnis im Bauwesen. Nicht einmal Bausteine oder Ziegeln sind bei ihnen im Gebrauch: Unförmiges Bauholz verwenden sie zu allem, ohne Ansehen und Anmut. Einige Stellen bestreichen sie besonders sorgfältig mit einer Erdart von solcher Reinheit und solchem Glanz, dass es wie Malerei und Farbzeichnung aussieht. Sie pflegen auch unterirdische Höhlen aufzutun und beschweren sie oben mit viel Mist als Zuflucht für den Winter und zur Aufbewahrung der Feldfrüchte, weil derartige Orte die starre Kälte mildern und ein Feind, wenn einmal einer ins Land kommt, nur, was offen daliegt, plündert; was versteckt und begraben ist, bleibt entweder unerkannt oder entzieht sich eben dadurch, dass man es suchen muss.
Kleidung von Mann und Frau
Körperbedeckung ist für alle der Mantel, der mit einer Spange oder, wenn sie fehlt, mit einem Dorn zusammengesteckt ist. Im übrigen bringen sie ganze Tage unbedeckt an Herd und Feuer zu. Die Wohlhabendsten wissen sich durch ihr Untergewand auszuzeichnen, das nicht herabfließt, wie bei den Sarmaten und Parthern, sondern eng anliegt und die einzelnen Gliedmaßen abzeichnet. Sie tragen auch Tierfelle; die nächsten Uferanwohner nachlässig, wer entfernter wohnt, erlesener, da er nicht durch den Handelsverkehr an gepflegte Kleidung kommt. Sie wählen sich das Wild aus und verzieren die abgezogenen Felle mit Pelzbesatz von Tieren, die das jenseitige Weltmeer und die unbekannte See hervorbringt. Nicht anderes ist die Tracht der Frauen und der Männer, außer dass sich die Frauen häufiger in einen leinernen Überwurf hüllen und diesen mit Purpur bunt färben und dem oberen Teil des Untergewandes keine langen Ärmel geben, nackt am Unter- und Oberarm; aber auch der nächste Teil der Brust ist frei.
Die Ehe, Hochzeit und Geschenke
Gleichwohl sind die Ehen dort streng und keine Seite ihrer Sitten möchte man unbedingter loben. Denn sie sind fast die einzigen unter den unzivilisierten Völkern, die sich mit einer Frau begnügen, ganz wenige ausgenommen, die sich nicht aus Sinnlichkeit, sondern ihres Adels wegen mit sehr vielen Heiratsanträgen umworben sehen. Die Mitgift bringt nicht die Gattin dem Gatten zu, sondern der Gattin der Gatte. Zeugen dabei sind die Eltern und Verwandten; sie prüfen die Geschenke, die weder mit Rücksicht auf weibliche Liebhabereien ausgesucht sind noch um der Neuvermählten zum Schmuck zu dienen, sondern Rinder und ein gezäumtes Pferd und einen Schild samt Frame und Schwert. Auf diese Geschenke hin wird die Gattin in Empfang genommen und bringt ihrerseits selbst auch dem Mann irgend etwas an Waffen zu. Das betrachten sie als stärkstes Band, dies als geheimnisvolle Weihen, darunter verstehen sie die Götter des Ehebundes. Damit die Frau mutige Taten nicht außerhalb ihres Gedankenkreises und sich den Wechselfällen des Krieges enthoben glaubt, wird sie gleich durch die Eingangsfeier des beginnenden Ehestandes daran erinnert, dass sie als Gefährtin der Mühsale und Gefahren eintrete, um im Frieden wie auf dem Schlachtfeld Schicksal und Wagnisse zu teilen. Dies sagt ihr das Joch Ochsen, dies das aufgeschirrte Ross, dies die überreichten Waffen. So habe sie zu leben, so zu sterben; sie empfange, was sie unentweiht und in Ehren auf ihre Kinder bringen, was ihre Schwiegertöchter empfangen und wiederum auf ihre Enkel übergehen solle.
Treue in der Ehe
So leben sie denn in den Schranken der Sittsamkeit, durch keine lüsternen Schauspiele, keine verführerischen Gelage verdorben. Auf die Heimlichkeiten von Briefen verstehen sich Männer wie Frauen gleich wenig. Fälle von Ehebruch sind bei dem so zahlreichen Volk eine große Seltenheit. Seine Bestrafung erfolgt auf der Stelle und ist dem Gatten überlassen. Mit abgeschnittenen Haaren, entkleidet, stößt sie der Gatte in Gegenwart der Verwandten aus dem Haus und treibt sie mit Schlägen durch das Dorf. Denn die Preisgabe der Keuschheit findet keine Nachsicht: nicht durch Schönheit, nicht durch Jugend, nicht durch Reichtum fände sie einen Mann. Denn niemand lacht da über die Laster und verführen und sich verführen lassen heißt nicht Zeitgeist. Noch besser freilich steht es bisher bei den Stämmen, bei denen nur Jungfrauen heiraten und es mit der Hoffnung und dem Wunsch der Gattin ein für alle Mal abgetan ist. So erhalten sie einen Gatten, ebenso wie einen Leib und ein Leben, auf dass kein Gedanke darüber hinausreiche, sich kein Verlangen weiter erstrecke, damit ihre Liebe nicht dem Gatten, sondern der Ehe gelte. Die Zahl seiner Kinder fest zu begrenzen und eines der nachgeborenen zu töten gilt als schandbar; und mehr vermögen dort die guten Sitten als anderswo gute Gesetze.
Leben in der Familie: Kindererziehung, Familiengründung, Verwandtschaft, Erbrecht
In jedem Haus wachsen sie nackt und schmutzig zu diesen Gliedmaßen, diesem Leib heran, den wir bewundern. Jeden nährt die eigene Mutter an der Brust, und sie werden keinen Mägden und Ammen überantwortet. Herr und Knecht lassen sich nicht an der Weichlichkeit der Erziehung unterscheiden: inmitten der selben Haustiere, auf dem selben Boden leben sie, bis das Alter die Freigeborenen absondert, die Tapferkeit sie anerkennt. Spät genießen die jungen Männer die Liebe, und deshalb ist ihre Jugendkraft unerschöpft. Auch mit den Jungfrauen beeilt man sich nicht. Gleich ist die Jugendfrische, ähnlich der hohe Wuchs. Gleichartig und in voller Kraft paaren sie sich, und die Kinder spiegeln die Kernhaftigkeit der Eltern wieder. Die Schwesternsöhne sind dem (mütterlichen) Onkel ebenso wert wie dem Vater. Manche halten diese Art von Blutsband für heiliger und enger und fordern, wenn sie sich Geiseln geben lassen, ganz besonders solche, in der Meinung, dass sie den Willen fester und das Haus in größerer Ausdehnung binden. Erben indessen und Nachfolger sind bei jedem seine leiblichen Kinder, eine letztwillige Verfügung gibt es nicht. Sind keine Kinder da, folgen als Erbberechtigte Brüder, Vaterbrüder, Mutterbrüder. Je mehr Blutsverwandte man hat, je größer die Zahl der Verschwägerten ist, desto mehr Achtung genießt man im Alter; Kinderlosigkeit gewährt keine Vorteile.
Freundschaft und Feindschaft, Geselligkeit und Gastfreundschaft
Die Feindschaften des Vaters oder eines Verwandten ebenso wie seine Freundschaften auf sich zu nehmen ist unerlässlich; aber sie dauern auch nicht unversöhnlich fort; denn sogar die Tötung eines Menschen lässt sich durch eine bestimmte Anzahl Groß- und Kleinvieh büßen, und das gesamte Haus nimmt die Genugtuung an, - zum Nutzen des Gemeinwesens, weil Feindschaften dort gefährlicher sind, wo Freiheit besteht. Für gemeinsame Mahlzeiten und Gastereien hat kein anderes Volk eine so ungemessene Vorliebe. Einem Sterblichen, gleich wem, sein Haus zu verwehren gilt als Frevel. Jeder bewirtet mit einem seinen Verhältnissen entsprechenden Essen. Ist dies ausgegangen, so wird der bisherige Wirt Wegweiser und Begleiter zu einem anderen Gastgeber, und uneingeladen gehen sie in das nächste Haus. Und es macht dies nichts aus: mit gleicher Freundlichkeit werden sie aufgenommen. Zwischen Bekannten und Unbekannten macht, was das Gastrecht angeht, niemand einen Unterschied. Bittet sich einer beim Gehen etwas aus, ist es Sitte, es ihm zuzugestehen, und sich dagegen etwas auszubitten nimmt man ebenso leicht. Sie haben Freude an Geschenken, doch rechnen sie die gegebenen nicht an und fühlen sich durch die empfangenen nicht verpflichtet. Der Verkehr unter Gastfreunden ist freundlich.
Privatleben: Tagesablauf, Trinkgelage
Gleich nach dem Schlaf, den sie meist bis in den Tag hinein ausdehnen, waschen sie sich gewöhnlich warm, da bei ihnen die meiste Zeit über Winter herrscht. Nach dem Waschen nehmen sie Speise zu sich. Jeder hat seinen besonderen Sitz und seinen eigenen Tisch. Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. Bei den - wie unter Trunkenen natürlich - häufig vorkommenden Streitigkeiten geht es selten nur mit Schimpfreden ab, häufiger mit Totschlag und Wunden. Aber auch über die gegenseitige Aussöhnung von Feinden und den Abschluss von ehelichen Verbindungen und die Wahl von Fürsten, endlich über Frieden und Krieg beraten sie sich sehr häufig bei Gelagen, gleich als meinten sie, dass zu keiner Zeit der Sinn so sehr für einfache Gedanken erschlossen sei oder sich für große erwärme. Ohne Verschmitztheit und List öffnet das Volk in der Ungebundenheit eines heiteren Anlasses noch seine innersten Gedanken. So offen und unverhüllt ist aller Denkweise. Am folgend Tag wird von neuem verhandelt und beiderlei Zeiten widerfährt so ihr Recht: sie beraten, wenn es ihnen nicht gelingt, sich zu verstellen, und beschließen, wenn sie nicht irren können.
Essen und Trinken
Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. Die nächsten Uferanwohner erwerben im Handel auch Wein. Die Speisen sind einfach: wilde Baumfrüchte, frisches Wildbret oder Käse aus Milch. Ohne besondere Zubereitung, ohne Gaumenkitzel vertreiben sie ihren Hunger. Dem Durst gegenüber herrscht nicht die selbe Mäßigung. Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.
Spiele und Spielsucht, Waffentanz und Würfel
Von Schauspielen gibt es nur eine einzige Art, die bei jeder Zusammenkunft wiederkehrt. Nackte Jünglinge, denen dies eine Kurzweil ist, werfen sich tanzend zwischen Schwerter und drohende Framen. Die Übung hat Fertigkeit erzeugt, die Fertigkeit ansprechende Form; jedoch nicht zum Erwerb oder gegen Bezahlung, obwohl der kühne Scherz seinen Lohn an dem Vergnügen der Zuschauer hat. Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. Der Besiegte begibt sich freiwillig in die Knechtschaft; wenn auch jugendlicher, wenn auch stärker, lässt er sich binden und verkaufen. So weit geht ihre Unnachgiebigkeit in einer verkehrten Sache: sie selber heißen es Ehrenpflicht. Sklaven dieser Art verkaufen sie weiter, um auch sich selbst von der Beschämung des Sieges zu entlasten.
Sklaven und Freigelassene
Die anderen Knechte verwenden sie nicht nach unserer Weise, so dass die Dienstleistungen planmäßig unter das Gesinde verteilt wären:Jeder leitet selbst seinen Hof und sein Haus; der Herr erlegt ihm, wie einem Pächter, ein bestimmtes Maß von Getreide, Vieh oder Kleidung auf und nur so weit ist der Knecht abhängig. Die übrigen häuslichen Dienstleistungen besorgen die Frau und die Kinder. Peitschen eines Knechtes und seine Züchtigung durch Fesseln und Arbeit ist eine Seltenheit. Seine Tötung kommt vor, aber nicht infolge von Zucht und Strenge, sondern aus Erregung und Zorn, wie einem Feind gegenüber, nur dass es ungestraft bleibt. Die Freigelassenen stehen nicht weit über den Knechten; selten haben sie einige Bedeutung im Haus, niemals in der Gemeinde, ausgenommen allein die Völkerschaften, die unter Königen stehen; denn da steigen sie sogar über die Freien und die Adligen empor; bei den andern ist es ein Merkmal ihrer Freiheit, dass die Freigelassenen untergeordnet sind.
Vermögensverhältnisse: Geldwirtschaft, Besitz an Grund und Boden
Mit Kapital zu wuchern und durch Zinsen zu vermehren ist unbekannt; deshalb hält man sich mehr daran, als wenn es verboten wäre. Die Ländereien werden nach der Anzahl der Anbauer von der Gesamtheit abwechselnd in Besitz genommen und dann später unter die einzelnen nach ihrem Rang verteilt. Die Weite der Felder erleichtert ihre Verteilung. Die Saatfelder wechseln sie alljährlich und es bleibt noch Brachland über. Denn sie ringen nicht mit der Ergiebigkeit und Ausdehnung des Bodens mit Arbeit, so dass sie Obstpflanzungen anlegten, Wiesen absonderten, Gärten künstlich bewässerten: nur Getreide wird der Erde abverlangt. Daher teilen sie das Jahr selbst auch nicht in gleich viele Abschnitte wie wir: Winter, Frühling und Sommer haben bei ihnen einen Sinn und eine eigene Bezeichnung; vom Herbst sind Name und Gaben gleich unbekannt.
Umgang mit den Toten
Bei den Leichenbegängnissen gibt es kein Gepränge; nur darauf halten sie, dass die Leiber ausgezeichneter Männer mit bestimmten Holzsorten verbrannt werden. Den Scheiterhaufen bedecken sie weder mit Gewändern noch mit Wohlgerüchen; jedem wird seine Rüstung, manchen auch ihr Pferd ins Feuer mitgegeben. Das Grab baut sich aus Rasen auf. Denkmäler zu Ehren der Verstorbenen hoch und mühsam aufzutürmen verwerfen sie als für diese drückend . Wehklagen und Tränen legen sie rasch wieder ab, Schmerz und Betrübnis nur langsam. Für Frauen gilt das Trauern als angebracht, für Männer das Gedenken. Das ist es, was ich allgemein über den Ursprung und die Eigentümlichkeit aller Germanen in Erfahrung gebracht habe. Jetzt will ich erörtern, in wie weit sich die Einrichtungen und Gebräuche der einzelnen Stämme unterscheiden, und welche Volksstämme aus Germanien nach Gallien übergesiedelt sind.
Helvetier und Boier, Aravisker und Osen, Treverer, Nervier, Vangionen, Triboker, Nemeter, Ubier
Dass die gallische Macht einst größer war (als die germanische), bezeugt der gewichtigste Gewährsmann, der verewigte Iulius Caesar; daher ist glaubhaft, dass auch Gallier (Kelten) nach Germanien hinübergingen. Denn wie wenig konnte der Strom ein Hindernis dafür sein, dass ein Volk, sobald es angewachsen war, andere Wohnsitze einnahm und beibehielt, als diese noch Gemeingut und nicht in selbständige Reiche aufgeteilt waren! So wohnten zwischen dem herkynischen Wald und den Flüssen Rhein und Main die Helvetier, weiterhin (nach Osten) die Boier, beides gallische Völkerschaften. Noch ist der Name Boihaemum vorhanden und deutet auf die alte Geschichte des Landes hin, obwohl es nun andere Bewohner hat. Ob aber die Aravisker von den Osen aus, als einem ursprünglich germanischen Stamm, nach Pannonien oder die Osen von den Araviskern aus, nach Germanien eingewandert sind, da sie noch die selbe Sprache, die selben Einrichtungen und Sitten haben, ist ungewiss, weil bei der einstigen Gleichheit von Armut und Freiheit beide Ufer (der Donau) die selben Vorzüge und Nachteile besaßen. Die Treverer und Nervier bilden sich hinsichtlich ihrer angeblich germanischen Abkunft sogar noch etwas ein, als ob dieser Adel des Blutes sie von der Ähnlichkeit mit den schlaffen Galliern abgrenzte. Das Rheinufer selbst bewohnen unzweifelhaft germanische Völkerschaften, die Vangionen, Triboker und Nemeter. Selbst die Ubier schämen sich, obwohl sie für ihre Verdienste zu einer römischen Colonie erhoben wurden und sich lieber nach dem Namen ihrer Stifterin Agrippinenser nennen, nicht ihrer germanischen Abstammung. Sie waren vor Zeiten herübergekommen und wurden für ihre bewährte Treue unmittelbar an das Rheinufer versetzt, um abzuwehren, nicht um bewacht zu werden.
Bataver, Mattiaker, Zehentland (agri decumates)
Die tapfersten aller dieser Volksstämme, die Bataver, haben vom eigentlichen Ufer nur wenig inne, wohl aber die Rheininsel: vormals waren sie ein chattischer Stamm und wanderten infolge innerer Zerwürfnisse in diese Gegend aus, wo sie ein Bestandteil des römischen Reiches werden sollten. Noch besteht ein Verhältnis der Achtung und die Auszeichnung des uralten Bündnisses: keine entwürdigende Steuer wird ihnen auferlegt, kein Staatspächter saugt sie aus; sie bleiben befreit von Lasten und Beiträgen und werden einzig zur Verwendung im Krieg gleichsam als Wehr- und Waffenrüstung für die Kämpfe aufgespart. In der gleichen Art der Abhängigkeit steht auch der Stamm der Mattiaker. Denn die Größe des römischen Volkes hat auch über den Rhein und die alten Grenzen hinaus die Achtung vor seiner Herrschergewalt ausgedehnt. So leben sie nach Wohnsitz und Grenzen auf dem eigenen Ufer, nach Denkweise und Willensrichtung auf unserer Seite, in allen Beziehungen den Batavern ähnlich, nur dass schon der Boden und das Klima ihres Heimatlandes sie noch hitziger stimmt. Nicht zu den germanischen Völkern möchte ich, obwohl sie jenseits von Rhein und Donau ihre Wohnsitze aufgeschlagen haben, diejenigen zählen, die das Zehentland bebauen. Gerade die leichtfertigsten unter den Galliern haben, durch ihre Armut verwegen gemacht, diesen Boden bei unklaren Besitzverhältnissen eingenommen. Seitdem danach der Grenzwall gezogen und die Besatzungen weiter vorgeschoben wurden, gilt dieses Gebiet als Ausläufer unseres Reichs und als Teil unserer Provinz.
Die Chatten und ihre Kriegskunst
Über diese (nach Norden) hinaus wohnen die Chatten. Ihre Wohnsitze beginnen mit dem herkynischen Wald und liegen nicht in so weit gedehnten Sumpfgebieten wie die (der) anderen Stämme, in die sich Germanien weithin ausdehnt, insofern ja Hügel da sind, allmählich seltener werden und der herkynische Wald seine Chatten begleitet und zugleich (in die Ebene) absetzt. Das Volk ist von härterem Körperschlag, hat stramme Glieder, strammen Blick und größere Lebhaftigkeit. Für Germanen haben sie viel berechnenden Verstand und Geschicklichkeit. Ihre Befehlshaber wählen sie aus, hören auf ihre Befehlshaber, kennen ihre Reihen, verstehen sich auf die günstige Gelegenheiten, wissen Angriffe zu verschieben, den Tag einzuteilen, für die Nacht sich zu verschanzen, zählen das Glück unter das Zweifelhafte, die Tapferkeit unter das Sichere und - was eine ganz besondere Seltenheit und ein ausschließlicher Vorzug der römischen Kriegszucht ist - sie legen höheres Gewicht auf die Anführer als auf das Heer.Ihre ganze Stärke besteht im Fußvolk, das sie außer der Rüstung noch mit eisernem Gerät und Mundvorrat belasten. Andere machen den Eindruck, als zögen sie zu einer Schlacht aus, die Chatten aber zu einem Krieg. Selten sind Streifzüge und zufällige Scharmützel. Den berittenen Streitkräften ist es allerdings eigen, rasch den Sieg zu erringen, rasch sich zurückzuziehen. Schnelligkeit ist Nachbarin der Furcht, Zaudern ist näher der Standfestigkeit.
Die Sitten der Chatten
Eine Sitte, die auch bei anderen Völkerschaften Germaniens, doch nur selten und infolge des persönlichen Wagemuts einzelner vorkommt, ist bei den Chatten allgemein geworden, dass sie, sobald sie zum Mann herangereift sind, Haupthaar und Bart wachsen lassen und erst, sobald sie einen Feind erlegt haben, die gelobte und der Tapferkeit verpfändete Ausstattung ihres Gesichtes ablegen. Über Feindesblut und Waffenbeute enthüllen sie die Stirn und rühmen sich dann erst, das Geschenk der Geburt verdient zu haben und ihres Vaterlandes und ihrer Eltern würdig zu sein; den Feigen und Unkriegerischen bleibt der Haarwust. Die Tapfersten tragen überdies einen eisernen Armring - dies ist in den Augen dieses Volkes ein Schimpf - gleichsam als Fessel, bis sie sich durch die Erlegung eines Feindes losmachen. Sehr vielen Chatten gefällt diese Aufmachung: sie ergrauen sogar in diesem Schmuck, ein Gegenstand der Aufmerksamkeit für die Feinde zugleich wie die Ihrigen. Sie sind es, die jeden Kampf eröffnen, sie bilden immer das Vordertreffen, ein überraschender Anblick. Denn auch im Frieden mildert sich ihr Blick nicht zu freundlicherem Aussehen. Keiner hat Haus oder Acker noch sonst ein Geschäft; wo sie hinkommen, werden sie verköstigt, verschwenderisch mit fremdem Gut, Verächter eigenen Besitzes; bis endlich das marklose Alter sie so rauer Tapferkeit unfähig macht.
Usipeten und Tenkterer; die vorzügliche Reiterei der Tenkterer
Den Chatten zunächst wohnen, wo der Rhein nunmehr in festem Bett fließt und zur Grenzscheide breit genug ist, die Usiper und Tenkterer. Die Tenkterer zeichnen sich außer dem gewöhnlichen Kriegsruhm auch durch eine trefflich geschulte Reiterei aus, und das chattische Fußvolk ist nicht berühmter die Reiterei der Tenkterer. So haben es die Vorfahren eingeführt, die Nachkommen machen es nach. Dies sind die Spiele der Kindheit, dies der Wettkampf der jungen Männer; noch die Greise bleiben dabei. Mit dem Gesinde, den Hausgöttern und den Erbansprüchen werden auch die Pferde weitergegeben; es bekommt sie nicht, wie das übrige, der älteste Sohn, sondern der kriegsmutigste und tapferste.
Die von den Chamavern und Angrivariern vertriebenen Brukterer
Nächst den Tenkterern traf man ehemals die Brukterer. Jetzt sollen die Chamaver und Angrivarier eingewandert sein und die Brukterer vertrieben und gänzlich ausgerottet haben. Die Nachbarstämme hatten sich damit einverstanden gezeigt, sei es aus Erbitterung über den Übermut oder gelockt durch die Beute oder infolge einer gewissen Gunst der Götter gegen uns; denn selbst den Anblick ihres Kampfes haben sie uns nicht missgönnt: mehr als sechzig Tausend fielen, nicht durch römische Wehr und Waffen, sondern, was weit herrlicher ist, uns zur Augenweide. O möge doch - ist mein inniger Wunsch - ewig bei diesen Völkern fortdauern - wo nicht Liebe zu uns, so doch wenigstens ihr Hass unter sich selbst, weil ja doch jetzt, wo das Reich seinem Verhängnis entgegeneilt, das Schicksal nichts Höheres mehr gewähren kann als der Feinde Zwietracht.
Dulgubnier, Chasuarier, Friesen; Säulen des Herakles
An die Angrivarier und Chamaver schließen sich im Rücken die Dulgubnier und Chasuarier und andere nicht so oft genannte Stämme an; vorn stoßen sie an die Friesen. Man spricht nach dem Maß ihrer Streitkräfte von größeren und kleineren Friesen. Beide Völkerschaften werden bis an den Ozean vom Rhein umgürtet und wohnen noch überdies um Seen von großer Ausdehnung, die auch von römischen Flotten befahren worden sind. Ja selbst in den Ozean haben wir uns dort gewagt; dass Säulen des Herkules noch vorhanden sind, hat die Sage verbreitet, sei es nun, dass Herkules wirklich dorthin gekommen ist, oder dass wir in einer Art Übereinkunft alles, was irgendwo sich Großartiges findet, mit seinem berühmten Namen in Zusammenhang bringen. Auch fehlte es Drusus Germanicus nicht an Wagemut; aber das Weltmeer widersetzte sich, dass man es gleichzeitig mit Herkules zum Gegenstand einer Untersuchung mache. Später machte niemand einen Versuch und man fand es frömmer und ehrfurchtsvoller, an die Taten der Götter zu glauben als Gewissheit zu suchen.
Die Chauken
So weit kennen wir nun Germanien gegen Westen hin. Gegen Norden tritt es in einer starken Ausbuchtung zurück. Gleich zuerst kommt das Volk der Chauken, das zwar bei den Friesen beginnt und einen Teil der Küste einnimmt, sich dann aber allen vorher erwähnten Stämmen zur Seite hinzieht und endlich bis ins Chattenland hinein einen Winkel bildet. Diese riesige Landfläche besitzen die Chauken nicht bloß, sondern füllen sie auch aus: das vornehmste Volk unter den Germanen, das seine Größe lieber durch Gerechtigkeit erhalten will. Ohne Habgier, ohne Herrschsucht, ruhig und abgeschieden fordern sie nicht zum Krieg heraus, schaden nicht durch Raub- und Plünderungszüge. Der beste Beweis ihrer Tapferkeit und Stärke ist, dass sie ihre überlegene Stellung nicht der Beeinträchtigung anderer verdanken. Trotzdem haben alle ihre Waffen bereit und, wenn es die Lage erfordert, ein Heer; Männer und Pferde im Überfluss. Auch wenn sie sich nicht rühren, bleibt ihr Ruf der selbe.
Die Cherusker und die Fosen, von den Chatten besiegt
An der Seite der Chauken und Chatten haben die Cherusker lange unangefochten einen allzu tiefen und in Schlaffheit übergehenden Frieden genährt. Dies gewährte mehr Behaglichkeit als Sicherheit; denn umgeben von gewalttätigen und mächtigen Nachbarn ist es verkehrt, ruhig zu bleiben: wo die Faust gilt, sind Mäßigung und Ehrlichkeit Bezeichnungen für den Stärkeren. So heißen die Cherusker, einst gut und redlich, jetzt nichtsnutzig und töricht. Den siegreichen Chatten rechnet man ihr Flück als Weisheit an. In den Sturz der Cherusker hineingezogen wurde auch ihr Nachbarvolk, die Fosen; im Missgeschick sind sie jetzt gleichgestellte Bundesgenossen, während sie ihnen im Glück untergeordnet gewesen waren.
Die Kimbern. Ihre Gefährlichkeit in den letzten Jahrhunderten
Dieselbe Ausbuchtung Germaniens haben am nächsten zum Weltmeer die Kimbern inne, nun ein kleines Volk, aber an Ruhm groß. Von ihrer alten Größe bestehen noch ausgedehnte Spuren, an beiden Rheinufern gewaltige Lagerplätze, an deren Umfang sich noch jetzt die gewaltige Menschenmasse und Tatkraft dieses Volkes ermessen und jener große Auszug glaubwürdig bestätigen lässt. In ihrem 640. Jahr stand unsere Stadt, als man zum ersten Mal von den Waffen der Kimbern hörte, unter dem Konsulat des Caecilius Metellus und Papirius Carbo. Zählt man von da bis auf das zweite Konsulat des Kaisers Traian, so ergeben sich ungefähr zweihundert und zehn Jahre; so lange wird Germanien siegreich bekämpft. Im Laufe dieses langen Zeitraums gab es auf beiden Seiten große Verluste. Nicht die Samniten, nicht die Punier, nicht die Spanien oder Gallien, selbst nicht die Parther haben uns so häufig beschäftigt: denn gefährlicher als des Arsaces Despotismus ist der Germanen Freiheitsdrang. Denn was hätte uns das Morgenland, das sich unter einen Ventidius beugen musste, anderes vorzuwerfen als die Niederlage des Crassus, erkauft sogar mit dem Tod des Pacorus? Dagegen haben die Germanen den Carbo und Cassius und Scaurus Aurelius und Servilius Caepio auch den Mallius Maximus geschlagen oder gefangen genommen, haben damit zugleich dem römischen Volk fünf konsularische Heere, dann den Varus und mit ihm drei Legionen auch noch dem Caesar Augustus abgenommen. Und nicht ungestraft haben Gaius Marius in Italien, der verewigte Iulius Caesar in Gallien, Drusus und (Tiberius) Nero und Germanicus sie auf ihrem eigenen Boden geschlagen. Dann kamen die großartigen Drohanstalten des Gaius Caesar (Caligula), die zum Gespött wurden. Anschließend war Ruhe, bis sie bei Gelegenheit unserer Zwietracht und Bürgerkriege die Winterlager der Legionen erstürmten und ihre Hände auch nach Gallien ausstreckten; dann drängte man sie wiederum von da zurück und feierte in den letzte Zeit mehr Triumphe über sie als sie besiegt wurden.
Die Sueben und ihre Haartracht
Jetzt muss die Rede auf die Sueben kommen, die nicht, wie die Chatten oder Tenkterer, aus einem einzigen Volksstamm bestehen; denn sie haben den größeren Teil Germaniens inne und sind noch in eigenen Stämme und Namen geschieden, obwohl sie im allgemeinen Sueben genannt werden. Ein Kennzeichen dieses Volkes ist die Sitte, das Haar schräg zu tragen und in einem Knoten zusammenzubinden. Hierdurch unterscheiden sich die Sueben von den übrigen Germanen, hierdurch die Freigeborenen unter den Sueben von den Sklaven. Bei anderen Völkerschaften geschieht dies entweder infolge einiger Verwandtschaft mit den Sueben, oder - wie es öfter geht - infolge von Nachahmung, jedoch vereinzelt und nur auf die Dauer der Jugend beschränkt: bei den Sueben kämmt man bis ins graue Alter das struppige Haar nach hinten, und oftmals knotet man es gerade über dem Scheitel zusammen. Die Fürsten haben es noch kunstvoller. Das ist ihre Putzsucht, aber eine harmlose. Denn nicht um zu lieben oder geliebt zu werden, sondern in der Absicht stattlich und schrecklich zu wirken, schmücken und bewaffnen sie sich, wenn sie zum Krieg ausziehen, für die Augen der Feinde.
Die Semnonen und der heilige Wald
Als die Ältesten und Edelsten unter den Sueben bezeichnen sie die Semnonen. Eine Bestätigung ihres hohen Alters bietet ein religiöser Brauch: Zu einer festgesetzen Zeit kommen in einem Wald, heilig durch Weihung der Väter und Ehrfurcht heischendes Alter, alle Völkerschaften desselben Blutes durch Gesandtschaften zusammen, opfern im Namen der Gesamtheit einen Menschen und begehen dann die schauervolle Feierlichkeit eines barbarischen Gottesdienstes. Noch eine andere Ehrfurcht erweist man dem Hain: Niemand tritt ein, ohne mit einer Fessel gebunden zu sein, um die eigene Abhängigkeit und die Macht des göttlichen Wesens zu bekunden. Fällt einer zufällig zu Boden, darf er sich weder aufrichten lassen noch aufstehen; auf dem Boden wälzt er sich hinaus. Dieser ganze fromme Wahn deutet dahin, dass hier die Wiege des Volkes, hier der alles beherrschende Gott sei, alles andere ihm untertan und dienstbar. Weiteres Ansehen verleiht den Semnonen ihre äußere Lage: hundert Gaue bewohnen sie, und ihre große Volkszahl bewirkt, dass sie sich als Haupt der Sueben ansehen.
Langobarden, Reudigner, Angeln u.a. - Die Verehrung der Erdmutter Nerthus
Dagegen adelt die Langobarden ihre geringe Zahl: von vielen mächtigen Stämmen rings umgeben leben sie nicht aus Unterwürfigkeit, sondern durch Kampf und Wagnis in Sicherheit. Die Reudigner sodann und Avionen und Anglen und Variner und Eudosen und Suardonen und Nuitonen sind durch Flüsse oder Wälder geschützt. An ihnen ist im einzelnen nichts bemerkenswert, als dass sie insgesamt die Nerthus, d.h. die Erdmutter, verehren und von ihr glauben, sie greife in die menschlichen Angelegenheiten ein und komme zu den Völkern gefahren. Auf einer Insel des Ozeans ist ein heiliger Hain und darin ein geweihter, mit einem Tuch bedeckter Wagen. Berühren darf ihn allein der Priester. Dieser erkennt es, wenn die Göttin im Heiligtum ist und geleitet ihren mit Kühen bespannten Wagen in tiefer Ehrfurcht. Fröhlich sind dann die Tage, Feste an allen Orten, die die Göttin ihres Besuches und Aufenthaltes würdigt. Kein Krieg wird geführt, keine Waffen ergriffen, eingeschlossen ist jedes Schwert; aber Frieden und Ruhe kennt man nur, liebt man nur, bis der selbe Priester die Göttin, die des Verkehrs mit den Sterblichen satt geworden ist, ihrem Heiligtum zurückgibt. Hierauf werden Wagen und Tücher und, wenn man es glauben mag, die Gottheit selbst in einem einsamen See gewaschen. Den Dienst verrichten Sklaven, die auf der Stelle der selbe See verschlingt. Daher waltet geheimes Grauen und eine fromme Unwissenheit darüber, was das sein möge, was nur Todgeweihte zu sehen bekommen.
Hermunduren und ihr Handelsverkehr mit den Römern
Dieser (zuletzt genannte) Teil Suebiens erstreckt sich bis in das weniger bekannte Innere von Germanien hinein. Näher an uns - um, wie vorhin dem Lauf des Rheins, so jetzt dem der Donau zu folgen - wohnt das Volk der Hermunduren. Sie sind den Römern ergeben und haben deshalb allein von allen Germanen nicht nur am Donauufer Handelsverkehr, sondern weit ins Innere und in der glänzenden Pflanzstadt der Provinz Rätien. An beliebigen Stellen kommen sie ohne Bewachung herüber; und während wir den anderen Völkern nur unsere Waffen und Feldlager zeigen, haben wir diesen unsere Stadt- und Landhäuser geöffnet, ohne dass sie darum bitten mussten. Im Hermundurenland entspringt die Elbe, ein ehemals berühmter und wohlbekannter Fluss; jetzt kennt man ihn nur vom Hörensagen.
Naristen, Markomannen, Quaden
Neben den Hermunduren wohnen die Naristen, anschließend (nach Osten) die Markomannen und Quaden. Herausragend sind Macht und Kriegsruhm der Markomannen; und selbst ihren Wohnsitz, aus dem sie vor Zeiten die Boier vertrieben haben, verdanken sie ihrer Tapferkeit. Auch die Naristen und Quaden fallen nicht aus der Art. Diese Länder bilden, soweit sie von der Donau umgürtet sind, gleichsam die Stirnseite Germaniens. Die Markomannen und Quaden hatten noch bis in unsere Zeit fortwährend Könige aus ihrem eigenen Volk, das edle Geschlecht des Maroboduus und Tuder; jetzt dulden sie auch auswärtige. Aber die Macht und Herrschaft der Könige fließt aus dem Ansehen der Römer. Selten werden sie durch unsre Waffen, öfter durch unser Geld unterstützt und gelten darum nicht weniger.
Die Cotiner, Arier, Marsigner, Osen und andere Stämme. Kult und Eigentümlichkeiten
Weiter zurück schließen die Marsigner, Cotiner, Osen und Burer sich im Rücken an die Markomannen und Quaden an. Unter diesen erinnern die Marsigner und Burer in Sprache und Tracht an die Sueben. Bei den Cotinern beweist ihre gallische (keltische), bei den Osen ihre pannonische Sprache, dass sie keine Germanen sind; ebenso der Umstand, dass sie keine Steuern dulden. Einen Teil der Steuern legen ihnen, als Leuten von auswärtigem Ursprung, die Sarmaten, einen anderen die Quaden auf. Die Cotiner graben zur Steigerung ihrer Schmach aus Eisen aus. Diese Völker haben sich alle nur zu einem kleinen Teil auf ebenem Land, vielmehr in Waldtälern und auf Berggipfeln niedergelassen. Denn Suebien trennt und durchschneidet eine zusammenhängende Gebirgskette, hinter der viele Völkerschaften wohnen. Unter diesen hat der Name der Lugier die größte Verbreitung und zerfällt in mehrere Stämme. Es wird genügen, die bedeutendsten zu nennen, die Harier, Helveconen, Manimer, Helisier, Nahanarvaler. Bei den Nahanarvalern zeigt man einen Hain von eigentümlicher Heiligkeit. Die Leitung hat ein Priester in weiblicher Tracht, als Gottheit aber bezeichnen sie - ins Römische übertragen - den Castor und Pollux. Dies ist das Wesen der Gottheit, der Name Alkis. Keine Bildnisse, keine Spur fremdländischen Kultes; aber als Brüder, als Jünglinge verehrt man sie. Übrigens sind Harier noch über ihre Kräfte hinaus - durch die sie die kurz zuvor aufgezählten Völker übertreffen - von grimmigem Wesen und steigern ihre angeborene Wildheit mit bewusster Kunst und Zeitwahl: Schwarz sind ihre Schilde, die Leiber bemalt, finstere Nächte wählen sie zu ihren Angriffen und jagen schon durch das Grauen und die Dunkelheit ihres Höllenheeres Schrecken ein, da kein Feind den ungewohnten und gleichsam gespentischen Anblick aushält. Denn das Auge ist in allen Schlachten das erste, was besiegt wird.
Die Gotonen, Rugier, Lemovier und die seefahrenden Suionen
Die jenseits von den Lugiern wohnenden Gotonen werden von Königen beherrscht, und zwar schon etwas straffer als die übrigen Völker Germaniens, doch ohne dass schon die Linie der Freiheit überschritten würde. Weiterhin dann, ganz am Ozean, sind die Rugier und Lemovier; Kennzeichen aller dieser Völker sind runde Schilde, kurze Schwerter und Gehorsam gegen Könige. Hierauf die Völkerschaften der Suionen, unmittelbar am Ozean; sie sind außer ihrer Landmacht auch noch durch ihre Flotten mächtig. Die Form ihrer Schiffe unterscheidet sich dadurch, dass beide Ende Vorderteile sind und so eine jederzeit zum Anlegen bereite Spitze haben; auch bedienen sie sich keiner Segel und statten ihre Seiten nicht mit Reihen von Ruderbänken aus: Das Ruderwerk ist wie auf einigen Flüssen unbefestigt und und kann je nach Bedarf auf die eine oder andere Seite bewegt werden. Bei ihnen steht auch der Geldbesitz in Ehren und deshalb herrscht ein einziger ohne Einschränkung mit unwiderruflichem Anspruch auf Gehorsam. Auch sind die Waffen nicht wie bei den übrigen Germanen dem Belieben preisgegeben, sondern eingeschlossen und bewacht, und zwar durch einen Sklaven, weil plötzliche Überfälle von Feinden der Ozean abwehrt, aber unbeschäftigte Hände von Bewaffneten aber leicht in Zügellosigkeit ausarten. Gewiss aber ist es im Interesse des Königs, weder einen Edlen noch einen Freien, ja selbst nicht einen Freigelassenen zum Waffenhüter zu machen.
Die Aestier und der Bernstein. Die Sitonen und ihre Weiberherrschaft
Über die Suionen hinaus liegt ein anderes, träges und fast unbewegtes Meer. Dass dieses den Erdkreis umgürtet und abschließt, wird dadurch beglaubigt, dass der letzte Glanz der schon untergehenden Sonne bis zu ihrem Aufgang mit solcher Helle fortdauert, dass er die Sterne verdunkelt. Der Volksglaube fügt hinzu, man höre überdies einen Klang beim Auftauchen und erblicke Pferdegestalten und das Strahlenhaupt. Dorthin setzt die Sage - und das mit Grund - die Grenze der Natur. Weiter wohnen nun am rechten Ufer des suebischen (baltischen) Meeres die Stämme der Aestier, die die Bräuche und Tracht der Sueben haben, ihre Sprache steht der britannischen näher. Sie verehren die Göttermutter; als Abzeichen ihres Glaubens tragen sie Amulette von Ebern. Dies macht statt Waffen und jeder Art von Schutzwehr den Verehrer der Göttin selbst inmitten der Feinde sorglos. Selten ist der Gebrauch von Eisen, häufig der von Knütteln. Weizen und die anderen Früchte bauen sie mit mehr Ausdauer an, als bei der gewöhnlichen Bequemlichkeit der Germanen zu erwarten wäre. Aber auch das Meer durchstöbern sie und sammeln allein von allen den Bernstein, den sie selbst Gles nennen, in Untiefen und unmittelbar am Ufer. Sein Wesen und seine Entstehungsart haben sie, als Barbaren, nicht erforscht oder ermittelt. Ja er lag sogar lange Zeit unter den anderen Auswürfen des Meeres, bis ihm unsere Prachtliebe einen Namen verschaffte. Sie selbst wissen damit nichts anzufangen: roh wird er gesammelt, unverarbeitet ausgeführt und staunend empfangen sie das Geld dafür. Dass er indessen ein Baumsaft ist, ersieht man daraus, dass einige kriechende, aber auch fliegende Tierchen, gar oft zwischendurch sichtbar sind, die in die Flüssigkeit hineingeraten und dann, wenn der Stoff sich verhärtet, eingeschlossen werden. Ich möchte daher folgendes annehmen: Wie in den abgelegenen Gegenden des Morgenlandes Weihrauch und Balsam ausschwitzen, so gibt es auch auf den Inseln und Küsten des Abendlandes fruchtbare Waldgegenden und Haine, wo Baumsäfte, durch die Strahlen der nahen Sonne ausgetrieben und flüssig werden, in das nächste Meer abfließen und durch die Gewalt der Stürme an das gegenüber liegende Ufer antreiben. Untersucht man die Eigenschaften des Bernsteins am Feuer, brennt er wie ein Kienspan, gibt einer fetten und riechenden Flamme Nahrung und verdickt dann zu Pech und Harz. An die Suinonen reihen sich unmittelbar die Stämme der Sitonen. Ihnen sonst ähnlich unterscheiden sie sich allein dadurch, dass eine Frau die Herrschaft hat. So sehr sind sie nicht nur von der Freiheit, sondern sogar von der Knechtschaft herabgesunken.
Die Peukiner, Veneter, Fennen
Hier ist die Grenze von Suebien. Ob ich die Stämme der Peukiner, Veneter und Fennen den Germanen oder Sarmaten zurechnen soll, ist mir zweifelhaft, obwohl es die Peukiner, die von einigen auch Bastarner genannt werden, in Sprache, Lebensart, Wohnart und häuslicher Einrichtung wie die Germanen halten. Schmutzig sind alle, lähmend faul die Vornehmen; in ihrem Aussehen neigen die Peukiner infolge von gegenseitigen Heiraten ziemlich zu dem garstigen Wesen der Sarmaten. Von ihren Sitten haben die Veneter viel angenommen; denn was sich zwischen den Peukinern und Fennen an Wäldern und Gebirgen emporhebt, durchstreifen sie in Raubzügen. Doch zählt man sie eher noch unter die Germanen, weil sie feste Wohnungen bauen, Schilde führen, rasche Läufer und gen zu Fuß sind, was bei den Sarmaten alles verschieden ist, die ihr Leben auf dem Wagen und zu Pferd zubringen. Die Fennen sind von außerordentlicher Wildheit und abstoßender Armut. Sie haben weder Waffen noch Pferde, noch Wohnungen; ihre Nahrung sind Kräuter, die Kleidung Tierfelle, ihr Lager der Erdboden. Ihre einzige Hoffnung sind ihre Pfeile, für deren Spitzen sie aus Mangel an Eisen harte Knochen verwenden. Die selbe Jagd nährt sowohl Männer als Weiber; denn diese gehen überall mit und fordern ihren Anteil an der Beute. Auch für die Kinder gibt es keinen anderen Zufluchtsort vor Wild und Regengüssen, als dass man sie unter einem behelfsmäßigen Geflecht von Zweigen zudeckt. Dahin kehren die jungen Männer zurück, das ist der Zufluchtsort der Greise. Aber sie achten dies für glücklicher als am Pflug zu ächzen, sich an Häusern abzuarbeiten und eigenes und fremdes Gut unter Hoffen und Bangen umzutreiben. Ohne Sorgen gegenüber den Menschen, ohne Sorgen gegenüber den Göttern haben sie das Schwerste erreicht: dass ihnen nicht einmal etwas zu wünschen bleibt. Alles Weitere ist bereits fabelhaft: dass die Hellusier und Oxionen Kopf und Gesicht von Menschen, Leib und Gliedmaßen von Tieren haben; dies will ich als unerwiesen dahingestellt sein lassen.
Siehe auch:
http://www.gottwein.de (für den lateinischen Text)